Laudatio zum PostPoetryNRW-Preis 2022 für Marcus Neuert und sein Gedicht "eisenbahnblues" von Karla Reimert Montasser vom Haus der Poesie in Berlin:
"Lieber Marcus Neuert, liebe Gäste der Preisverleihung,
im amerikanischen Blues steht die Eisenbahn zumeist für das Abhauen, das planlose Herumreisen, auch das Nicht-wissen-wohin... Viele Songs beschreiben kleine Fluchten, meist schwarzer Männer von zu viel Arbeit, die Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer in großen Städten an großen Strömen.
Häufig handeln die Texte des Blues auch von Diskriminierung, Verrat, unerwiderter Liebe, Arbeitslosigkeit, Hunger, finanzieller Not, Heimweh, Einsamkeit und Untreue, alles Motive, die in „eisenbahnblues“ ebenfalls ihren Auftritt haben. Das Klischee vom Blues als vor allem trauriger Musik, das er in der Zeit der Wiederentdeckung in den 50er und 60er Jahren durch das neue weiße Publikum erfuhr, hängt dem Blues bis heute nach, tatsächlich kommt der Blues auch trotz seiner Inhalte oft gutgelaunt oder zumindest selbstironisch daher.
Der Blues spielt auch gern mit Geschlechterrollen; ist die Frau in einem Liebespaar nicht gut drauf, so verschwindet sie zu ihrer Mutter, für Männer bleibt der Fernwehwind und die Hoffnung darauf, beim geschnorrten Freiritt auf dem Dampfross dank einer Glückskindhaube nicht entdeckt zu werden.
Die Sehnsucht nach dieser Freiheit hatte und hat etwas perfide Tröstliches, selbst wenn es sich nicht um Chicago und Mississipi, sondern um Neuss und Nippes und den Rhein handelt, die Folianten nur aussehen wie Bibeln, und das lyrische Ich nicht selbst verloren ist, sondern nur im selben Beinhaus wohnt...
Und wie das so ist beim Dichten, man liebt als Marcus Neuert Neues und findet Stehrumchen im Text doof, so lässt sich doch auch mit den raffiniertesten constraints nicht jede Binse aushebeln und, glaubt man den Suchmaschinen, hat der Blues auch nach wie vor einen schweren Stand in Köln.
Womit wir beim fabelhaften Gebrauch des Anagramms in diesem Gedicht wären. Sie wissen schon, Anagramme sind Wahrnehmen und Tun auf der Quantenebene der Sprache, aus Erbgut wird durch Umstellung Betrug und neuss liebhaben geht eben nicht ohne das eingeschriebene Gegenteil, den eisenbahnblues. Marcus Neuert benutzt hier, anders als etwa Unica Zürn, die Anagrammtechnik nicht streng formal, sondern eingebettet in eine Story, er selbst bezeichnet dies, so Patrick Wilden in einer Rezension zu seinem Band fischmaeuler. schaumrelief. anagrammatische miniaturen. als „Insulartechnik“.
Mit Anagramm und Storytelling als Werkzeugen wird in Neuerts Anagrammen eine äußerst lustvolle Gegenrealität von Phänomenen und Zeichen geformt, die vornehmlich als wackliger Grenzzaun zu verstehen ist, insbesondere durch Symmetrie und Redundanz als Symptome der Wiederkehr des rätselhaften Gleichen, haarscharf an dem Bereich der Magie und des Rituals entlangwandernd.
Ein herausragendes constraint sei betont: Das Gehirn macht nicht das Bewusstsein, es ist dessen constraint. Daraus entwickelt das Gedicht auf wunderbare Weise seine frappierend kunstvollen Kapriolen. Ist das noch höherer Blödsinn oder etwa schon eine triumphierende Gegen-Logik?
Auf die oft an ihn gerichtete Frage, wozu denn „das“ alles mit der Quantenmechanik gut sei, hat einer der diesjährigen Nobelpreisträger für Physik, Anton Zeilinger, geantwortet: "Ich kann Ihnen ganz stolz sagen: Das ist für nichts gut. Das mache ich aus Neugierde". Er erhielt den Nobelpreis dieses Jahr auch für die Widerlegung des Einsteinschen Diktums, dass nichts schneller sei als Licht.
Schlimmer noch war für Einsteins Weltbild etwas, dessen Implikationen der Physiker als »spukhafte Fernwirkung« bezeichnete und das Ausdruck eines zentralen Aspekts der Quantenmechanik ist: die Verschränkung. Sie verknüpft die Eigenschaften zweier Teilchen untrennbar miteinander, die beliebig weit voneinander entfernt sein können. Erst, sobald man eines der Teilchen vermisst, wird ihr Zustand festgelegt – und zwar sofort, sowohl für das beobachtete als auch für das andere. Wie soll das ungeachtet der Entfernung funktionieren, also auch für ein Teilchen, das sich womöglich am anderen Ende der Galaxis befindet?
So lässt sich auch der ganze Versuchsaufbau von „eisenbahnblues“ auch nur dadurch erklären, dass im Moment der Entscheidung, dieses Wort für das Verfahren der Buchstabenrochaden zu benutzen und kein anderes, bereits der gesamte Sinn – irgendwie, stellen Sie sich bitte an dieser Stelle eine geeignete Anzahl an Wundern vor – festgelegt wird.
Danke, Marcus Neuert, für die wunderbare Trittbrettfahrerei in die Quantenmechanik der Sprache!"
Marcus Neuert, Imaginauten. Ein Morbidarium in 21 Erzählungen. ISBN 978-3-945177-63-1, 10 €, 180 Seiten. Free Pen Verlag, Bonn 2018.
Von Barbara Zeizinger
Alles scheint möglich
Schon die Inhaltsangabe von Marcus Neuerts neuem Buch Imaginauten. Ein Morbidarium in 21 Erzählungen deutet darauf hin, dass die Protagonisten ähnlich schweren Gefahren ausgesetzt sind, wie Argo- oder Astronauten. Gleich die erste Geschichte das Loch erzählt nämlich von einem Mann, der sich von seiner Freundin getrennt hat, mit ihr nur noch in Form von Haiku kommuniziert und sich schließlich im Keller selbst einmauert, bis der letzte Stein das Licht löscht. Eines der Haiku lautet:
Was tue ich hier?
…Bin ich es überhaupt, der das tut?
…Wer bin ich?
Wer bin ich? Diese Frage könnte die Überschrift zu vielen dieser doppelbödigen, oft geheimnisvollen Erzählungen sein, und nicht immer gibt der Autor eine einfache Antwort. Oft geht es um Einsamkeit. Wie bei diesem tatsächlichen Astronauten, der sich von seinem Raumschiff ausklinkt, um einen Rest der Selbstachtung zu bewahren und sich dann, seines erschütternden absoluten Alleinseins bewusst wird.
Auch in keine Nacht für Niemann spielt die Einsamkeit und was daraus folgt eine große Rolle. Da lässt sich einer, der versuchte, sich mit seinem Alleinsein zu arrangieren, auf ein mysteriöses Mädchen ein, verfolgt ihretwegen einen Lastwagenfahrer, der im Verlauf der Geschichte, wahrscheinlich wegen des Mädchens, zu Tode kommt.
Wie gesagt, leben Marcus Neuerts Figuren gefährlich. Sie stürzen, wie der alte Dusk Dawner in seinem weinroten Mercedes-Cabriolet unverhofft in einen Fluss, nicht ohne im freien Fall, seinen Erinnerungen ausgeliefert zu sein. Oder jemand flüchtet vor Verfolgern in ein Treppenhaus (schwarz. Weiß. Nacht), wird einen Schacht hinuntergeworfen, überlebt und ist jetzt geübt im Sterben, als er schließlich von einem Lastwagen überrollt wird. Oder jemand fährt in einem Lift, merkwürdige Gestalten steigen ein und aus, immer schneller saust der Lift, bringt ihn immer tiefer, bis das Display -137 zeigt.
So absurd diese Geschichten zu sein scheinen, oft haben sie einen realen Ausgangspunkt und Marcus Neuert gelingt es, nicht nur menschliche Hybris zu zeigen, sondern auch die Ängste (und Strafen), die diese Überheblichkeit irgendwann mit sich bringt. Es ist nämlich ein Wirtschaftsmann namens Billings, der diese rasante Fahrstuhlfahrt erleiden muss, und die Handlung beginnt ganz real im 83. Stockwerk des Al Abdallah Buildings, wo er sich von Prinz Hamed verabschiedet. Es geht um maßlose Ölgeschäfte!
Jetzt geht es richtig abwärts, sagt Billings augenzwinkernd. So tief haben wir bei Brit Oil Worldwide noch nie gebohrt.
Aber wir können es, gibt Prinz Hamed zurück, und Allah wird es uns lohnen. Brauchst du eine Eskorte? Du weißt ja, die Anderen können überall sein.
Immer wieder blitzt Ironie in Neuerts Erzählungen auf und Spaß an Wortspielen. Nicht Glaube, Liebe, Hoffnung bilden für die Besitzer und Manager einer Firma das Leitziel, sondern in den drei Bürotürmen (im Schatten der Türme) gilt als Motto:
Nun aber bleiben Schläue, Machtwille, Skrupellosigkeit, diese drei. Aber der Machtwille ist der stärkste unter ihnen.
Ungerecht sei die Welt, befindet der ausgemusterte Manager Richter, denn seit zwei Jahren gab es keine Dividendenausschüttung.
Die zahlreichen Figuren innerhalb seiner 21 Erzählungen verbindet, dass sie alle nicht besonders gut in der Realität zurechtkommen. Dennoch sind sie sehr unterschiedlich und Marcus Neuert gelingt es, sie auch in den teilweise sehr kurzen Geschichten treffend zu charakterisieren.
Dies zeigt er besonders in der titelgebenden, längeren Erzählung Imaginauten, in der uns ein ganzes Tableau an Protagonisten begegnet. Geht es dabei doch um die unterschiedlichsten „Stimmen“, über die es in dem vorangestellten Motto von John Durham Peters heißt:
Losgelöst vom Körper,
tendieren Stimmen und Gedanken
zu psychotischem Verhalten.
Diese Stimmen sind, obwohl körperlos, dennoch als tatsächliche Personen, mit eigenem Aussehen, eigenen Wünschen, eigener Sprache und eigenem Handlungen dargestellt, wobei es Marcus Neuert in dieser Erzählung besonders gut gelingt, sie als plastische Figuren vorzustellen. Der Gastgeber dieser Stimmen erläutert den Titel der Erzählsammlung:
Ich bin der Gastgeber der Stimmen, der Eingebungen. Wir tauchen ab, wir fliegen, sind gleich darauf wieder statischer Augenblick. Wir sind Stoff gewordene Gedichte. Reisende unserer eigenen Vorstellungen: Imaginauten. Alles scheint möglich.
In diesem Sinne erzählen die Geschichten, mögen sie auch manchmal so unwahrscheinlich, so surreal erscheinen, doch ein Teil unserer Wirklichkeit.
(ursprünglich erschienen auf fixpoetry.com)